Neues von der Ethikkommission
„Grenzverletzungen aus der Perspektive von Betroffenen und Tätern“
Die Arbeit von Vertrauensleuten, Ethikbeauftragten und Kolleg*innen in Leitungsfunktionen
Bericht vom 3. Workshop des Ethikvereins, Hannover 22.6.2024
Zu Beginn gab Andrea Schleu, die Vorsitzende des Ethikvereins, einen kurzen Einblick in die Thematik der Grenzüberschreitung im medizinischen und psychotherapeutischen Arbeitsfeld. Laut dem Ärzteblatt nehmen die Fälle zu (in den letzten 10 Jahren um 116 %), wobei es zu sehr wenigen Verurteilungen nach &174 ,c kommt.
Die Täter seien zu 90 % ohne Schuld- oder Schamgefühl, die juristische Verfolgung sei sehr schwach, was die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen erhöhe.
Insbesondere in den Ausbildungsinstituten, über die auch die transgenerationale Weitergabe dieser Praktiken von Grenzverletzungen erfolge, könne von einer „kollusiven Verleugnung“ aller Beteiligten – der Opfer, der Täter und der Organisationen ausgegangen werden.
Dem Ethikverein geht es darum, die Betroffenen vom Opfer zu Zeug:innen zu machen und bei Kolleg:innen das Bystandertum in aktive Parteinahme umzuwandeln.
Verena Daues, Psychologische Psychotherapeutin mit analytischer und tiefenpsychologischer Ausbildung berichtete als Betroffene von (nicht sexualisierten) Übergriffen durch ihre Analytikerin: ihr Erleben, ihre Loslösung von der Therapeutin, ihr Weg der Gegenwehr mit Hilfe von Frau Schleu über die Ethikkommission und den Ethikrat des betreffenden Ausbildungsinstituts.
Berührend und eindrücklich war ihre Fallschilderung, in der sie verschiedene Einflussfaktoren analysierte: das Machtgefälle zwischen Therapeutin und Klientin, die „Autorität“ und Idealisierung der Lehranalytikerin, ihre Isolation und Abhängigkeit wie auch der eigene narzisstische „Gewinn“ durch vermeintlich privilegierte Behandlung durch die Therapeutin, bis die Therapie umschlug in aggressive verbale Übergriffe und körperliche Gewaltanwendung.
Daues‘ Appell an Kolleg:innen und Ausbilder:innen: wenn Klient:innen über Grenzverletzungen berichten ist es wichtig, ihnen Glauben zu schenken und für sie Partei zu ergreifen.
Verschiedene analytische Ausbildungsinstitute haben mit der Arbeit an Schutzkonzepten begonnen, wonach Ombudspersonen benannt wurden sowie Vertrauenspersonen aus dem Lehrkörper und dem Kreis der Kandidat:innen.
Ethikrichtlinien als Teil des Ausbildungshandbuchs wie in der TA sind noch nicht sehr verbreitet.
Unter dem Titel „Verstehen ist nicht Verständnis“ berichtete
Stefan Postpischil, Psychologischer Psychotherapeut, Lehranalytiker/Supervisor und langjährig tätig im Justizvollzug, über die Behandlung von Sexualstraftätern. Er ist auch u.a. tätig in der Prävention, indem er für SOS-Kinderdörfer die Begutachtung der Bewerber:innen vornimmt.
Seine Ausgangsthese: Tätertherapie ist Opferschutz. Bei Sexualstraftätern sei die Rückfallquote am höchsten, wobei schwere Sexualstraftaten 1,3 % aller Straftaten ausmachten. Die juristische Grundlage bietet der Paragraph 174c, StGB
§ 174c Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Mißbrauch des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur psychotherapeutischen Behandlung anvertraut ist, unter Mißbrauch des Behandlungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen läßt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Es gebe ca 600 Fälle im Jahr in Psychotherapie, wobei es zu 4 Verurteilungen pro Jahr maximal gekommen sei. 50 % der Fälle kamen in Institutionen vor.
Eindrücklich waren seine Ausführungen zu Motivation, Symptomatik und Verhaltensmustern von Tätern, auch seine Warnhinweise zum Profil der Täter: Diese bekämpften ihr eigenes Ohnmachtsgefühl, eigene Erfahrungen projektiv im Opfer; Grenzenlosigkeit, eine Spirale Gewalttätigkeit diene der Schuldabwehr, Suchtcharakter, etc.
Als handlungsleitende Prinzipien für die behandelnden Therapeut:innen benennt er u.a.:
- Manipulative Muster zurückweisen ohne Beziehungsabbruch, um heilsame Beziehungserfahrungen zu ermöglichen
- Das eigene Unbehagen in der Therapie unbedingt ernstnehmen
- Verstehen ist nicht Verständnis
- Beim Klienten müsse ein Leidensdruck entstehen, aus dem erst der Wunsch nach Veränderung wachsen könne.
- Resonanz fördere die Defizite der Selbstwahrnehmung
- Immer wieder Thematisierung: „Was ist hier los im Therapiegeschehen -was spüre ich statt: was soll ich glauben
- Anpassung sei keine strukturelle Veränderung
80 % der Täter bei sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie sind laut Postpischil Wiederholungstäter. Im Alter steige noch die Rückfallquote, die Sanktionen seien zu schwach, vor allem in Institutionen.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass betroffene Patient:innen und Klienti:innen sich auch an die jeweiligen Kammern wenden können (Psychotherapeuten- Ärztekammern der Länder).
Die nächste Tagung findet am 9.11.2024 in Berlin statt.
Literatur und Ressourcen im Internet:
Andrea Schleu, Umgang mit Grenzverletzungen: Professionelle Standards und ethische Fragen in der Psychotherapie (Psychotherapie: Praxis) 2021
vgl. Rezension von Almut Schmale-Riedel, ZTA 4-2021
TV-Beiträge
https://www.zdf.de/gesellschaft/volle-kanne/talk-missbrauch-in-therapie-100.html
Dokumentation über sexuellen Missbrauch in der Kindertherapie, 37 Grad ZDF
https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad-leben/glaubt-mir-missbrauch-in-der-therapie-102.html
Anne Huschens, Vorsitzende der Ethikkommission
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